Wer zu spät kommt hat auch was vom Leben
Freiheit statt Angst (2008): ein Reisebericht
Der Verfasser dieser Zeilen hat sich schon leidlich an den Selbsthass gewöhnt. Ihm will nämlich seit einem Jahr nichts mehr recht gelingen. Unter diesem Stern schien auch die geplante Reise zur Großdemonstration "Freiheit statt Angst" am 11.10.2008 zu stehen, die vom AK Vorratsdatenspeicherung in Berlin organisiert wurde. Die Veranstalter waren so umsichtig, über den Verein FoeBuD e.V. Bustouren zu organisieren, um reisewilligen Demonstranten aus dem Bundesgebiet eine Städteverbindung bieten zu können. Die Bustour ist nicht mein Thema: Zwar hatte ich gebucht, die Abfahrt um 7:15 ab Bielefeld allerdings verschlafen.
Dafür seit sehr langer Zeit mal wieder die Gelegenheit genutzt, um per Anhalter zu reisen. Hier mein Bericht.
Take #1: Lemgo - Hohenhausen (10 km)
Neun Uhr. Lemgo stadtauswärts steht man in aller Regel nicht lange, ich habe hier schon öfter Leute gesehen, die den Daumen raushalten. Nach kaum zehn Minuten sitze ich bei einem jungen Russlanddeutschen im Mittelklassewagen, der in Arbeitshose zur Verwandschaft unterwegs ist, um beim Hausbau zu helfen. Die Strecke ist in zehn Minuten abgefahren, und da er mir unbedingt noch ein Faltblatt andrehen möchte, schließt sich zwischen Tür und Angel noch eine Diskussion über Jesus und die Apokalypse an. Zu meinem eigenen Pech begreife ich die Bibel als Lehr- und Geschichtsbuch und nicht als Gottes letzte Botschaft an die Schöpfung. Jedenfalls kriege ich es von meinem Helfer verbrieft, dass ich mich eben nicht auf dem rechten Weg befinde. Huh, Terror?
Take #2: Hohenhausen - Hessendorf (10 km)
Das Leben in der Provinz, das ist von besonderer Art. Wie miesepetrig die Leute gucken können, wenn sie Samstag Vormittag bei schönstem Wetter sich eben mal schnell ins Auto setzen, um dies und das zu besorgen, das kriegt Michel erst mit, wenn er sich mitten im Ort an die Straße stellt und den Daumen hebt. Ich bin hier ein Fremdkörper, das kriege ich deutlich mitgeteilt. Hie und da ein freundlicher Wink und ein Zeichen, dass der Fahrer leider abbiegen müsse: Das sind die hellen Momente. Ca. 40 min muss ich hier warten, bis mir einer aushelfen kann. Ein Studierter, Innenarchitekt, und schon haben wir eine gemeinsame Basis. Im Ingenieurwesen sind Führungsfragen das A und O des beruflichen Alltags. Also reden wir über Angst als Führungsinstrument. Und kommen in der kurzen Zeit, die wir miteinander teilen, auf den Konsens, dass nur führen kann, wer seine ureigensten Ängste zu bewältigen weiß. Heilt Schäuble, irgendeiner muss sich doch mit sowas auskennen!
Take #3: Hessendorf - Autobahnauffahrt Rehren (10 km)
Anhalters Traum: Regel-, nicht übermäßig befahrene Bundesstraße, Haltebucht für Überlandbus, eindeutige Straßenführung und: schönstes Wetter. Die Apfelbäume auf der gegenüberliegenden Straßenseite tragen schwer an ihren roten Früchten - im Gegensatz zum vergangenen Jahr gibt's diesmal eine reiche Ernte. Da ich hier offensichtlich Michel im Glück bin, gucken die vorbeifahrenden Leute auch nicht mehr ganz so abweisend und schuldbewusst wie kurz zuvor im Ortskern Hohenhausen. Und viel mehr als eine Zigarettenlänge ist auch nicht nötig, bis sich die Provinz auch menschlich von ihrer gesündesten Seite zeigt. Mein Helfer mit Allradantrieb ist nämlich Landwirt, und auch wenn er es nicht sagt, habe ich keinen Zweifel daran, dass bei ihm alles "bio" ist. Sein Beruf sei auch sein Hobby, meint der kräftig gebaute Mann um die Fünfzig, und damit zählt er für mich zu den glücklichen Menschen, und das sage ich auch. Das Einzige, was ich über die Situation in der Landwirtschaft weiß, ist, dass viele in der Branche dazu gezwungen sind, Kapazitäten zu erweitern, um das Einkommen zu halten. Das ist ein bißchen dünne für ein weiterführendes Gespräch zu diesem Thema, und darum geht's ja auch gar nicht. Also reden wir über Menschliches, Allzumenschliches. Sein - bemerkenswertes - statement: Er arbeite nur noch mit Leuten zusammen, bei denen er sicher sei, dass eine gewisse gemeinsame Basis besteht. Oh, und ich kann nicht anders, als dazu mein Leid klagen. Was soll nur aus dir werden, Junge?
Take #4: Autobahnauffahrt Rehren - Rastplatz Varrelheide (50 km)
Ich trage keine Uhr, und auch wenn ich das Handy dabei und angeschaltet habe, möchte ich lieber nicht genau wissen, wie spät es mittlerweile ist. Dass ich es kaum mehr schaffen kann, bis 14:00 in Berlin zu sein, ist eh klar. Und diesmal ist es eine Härteprobe, direkt am Randstreifen, 10 m vor dem Autobahnschild, neben dem Graben. Da muss Anhalter schon sehr aufpassen, die Moral hoch zu halten. Wenigstens wird die Auffahrt überhaupt genutzt, so alle 10 Minuten mal. Bleibt Zeit für eine Kaffeepause, und ein bißchen, nur nicht zuviel, Sinnieren über dies verschissene Dasein. Nach jahrelangem unnützen Rumsitzen in dämlichen Vorlesungen und den letzten Monaten, die ich fast nur noch vor dem Rechner verbracht habe, fällt mir das lange Stillstehen ungewohnt schwer, und ich gehe oft hin und her, um mir die Beine zu vertreten. Drei, vier mal wirbelt mir ein LKW den Straßenstaub vor die Nase. Die meisten - und oft die jungen - Leute, die in ihren immer wieder großen Autos an mir vorbeifahren, gucken dämlich. Für zwei Manager in offensichtlicher Eile bin ich vielleicht noch sowas wie eine Mahnwache in der Wüste, für die vorbeifahrende Polizeistreife nicht mehr als einen kurzen Blick wert. So geht fast eine Stunde rum, nach meiner Schätzung.
Endlich wird das Warten belohnt. Ein kauziger Typ in ölverschmierter Latzhose und ziemlich neuem Mittelklassewagen, der sich sofort das Du ausbittet. Karl arbeitet im Straßenbau, und das seit '69. Ja, das macht er gerne. Er ist Baggerführer und hat einige Jahre in Australien gelebt. Seit der Scheidung ist das Haus weg, sagt er. Und er sei dreifach qualifiziert, im Straßenbau, als Elektriker und als Maschinist. Das Einzige, was ihm in seinem Beruf mehr und mehr auf die Nerven geht, ist die Fahrerei. Seit die Ausschreibungen im Straßenbau europaweit laufen, werden die Wege immer weiter. Jetzt ist er nach Hamburg und nach Hause unterwegs. Er fährt schnell, und auch wenn ich grundsätzlich kein Problem damit habe, dass er beim Fahren einen Anruf entgegennimmt und sein Netzwerk pflegt, muss ich doch unwillkürlich das eine oder andere Mal die Füße gegen das Bodenblech stemmen, wenn ein vorfahrendes Auto bedrohlich nahe kommt. Aber wir reden lieber über Deutschland im Jahr 2008. Warum ein junger Kerl wie ich - Karl darf das sagen, er ist bestimmt 20 Jahre älter als ich - nicht einfach auswandert? Oder sich selbständig macht? Ich verteidige mich: Für beides braucht man Geld. Und, egal wo ich bin: die Probleme nehme ich mit. Jedenfalls spürt er meine Konzeptlosigkeit, und am Ende bedauern wir es beide, dass wir nicht mehr Zeit miteinander verbringen konnten. Dank ihm bin ich aber über den toten Punkt hinaus und weiß nun mit Sicherheit, dass ich es bis Berlin schaffen werde. Lob der Solidarität!
Take #5: Rastplatz Varrelheide - Autobahnraststätte Zweidorfer Holz (40 km)
Das ist ein Rastplatz mit WC, und obwohl es ziemlich ruhig zugeht, wird er an diesem Samstagmittag doch hin und wieder angefahren. Hier wird mir nicht langweilig, allerdings kriege ich mehrfach Bescheid, dass an der nächsten Ausfahrt die Reise schon zu Ende geht. In einem Fall entwickelt sich ein Gespräch. Mein Gesprächspartner ist nur wenig älter als ich, verheiratet mit zwei Kindern. Ich teile ihm mit, warum ich unterwegs bin, und er lobt den Idealismus, den Leute haben, die zu einer Demonstration fahren. Aber mal ehrlich, was soll es denn bringen? Ändern wird sich nichts, der Kapitalismus hat immer gewonnen, und letztlich wird sich jeder nur um seinen eigenen Kram kümmern. Ich entgegne, dass er mit seinen Kindern schon seinen Teil zur Arterhaltung beigetragen hat und mir mangels eigener Familie eben dieser Weg offensteht. Mein Frust und sein Frust halten sich die Waage. Was uns eint, ist das Liberale, wenngleich uns beiden bewusst ist, dass wir uns bei einem gemeinsamen Kneipenabend schwer tun würden, außer Politik ein für beide befriedigendes Thema zu finden.
Umso besser, dass wir beide weiter wollen und nach diesem Intermezzo jeder wieder seiner Wege geht. Mein nächster Gastgeber ist ein älterer Herr, der zur Firmung seines Neffen von der holländischen Grenze bis Wolfenbüttel unterwegs ist. Er bittet sich sofort das Du aus, und da wird mir gleich das Herze leicht. Der gewonnene Raum wird ebenso schnell durch die harten Themen besetzt. Der Schily und die Stein-leute, die Brücks und Meyers, das sind gute Leute, findet Heinz. Die machen ihre Sache ordentlich. Und was der Schily getan hat, um der Bedrohung durch die Islamisten zu begegnen, sei doch auch rechtens gewesen. Ohje, schon ists wieder vorbei mit der Seligkeit. Und es bleibt kaum genug Zeit, meinen Fahrer schonend aufzuklären. Ich versuche es trotzdem: "Hast du schon mal drüber nachgedacht, dass das mit dem Terror ein Schwindel sein könnte? Dass das, was uns erzählt wird, eine Methode ist, um einfacher regieren zu können?" Mehr ist aber schon nicht mehr drin, für den Rest der Fahrt sparen wir uns die Politik und geben uns Mühe, unserer Seelenverwandtschaft die Würde einer echten Begegnung zu verleihen.
Take #6: Autobahnraststätte Zweidorfer Holz - Autobahnraststätte Börde Süd (80 km)
Da ich mittlerweile zügig vorankommen möchte, halte ich mich an die Tankstelle, um eine freundliche Seele zu finden. Hier ist nämlich eine Finanzkrise, und da ist Georg. Er kommt aus der Branche, hat nach seiner Banklehre für einen Versicherer "Beratung" gemacht. In Wahrheit sollte er die Versicherungsprodukte verkaufen, ein seriöses, aber würdeloses Geschäft, wie er sagt. Nach zwei Jahren hat er sich mit einem Partner selbständig gemacht und bietet heute nur noch Beratung und Coaching an. Seit bald zwanzig Jahren. Das läuft gut, wie es scheint, der große Volvo, in dem wir sitzen, spricht für sich selbst. Ich frage ihn, ob er glaubt, dass unser dreigliedriges Banksystem mit den Zweigen der Sparkassen, Genossenschafts- und Privatbanken die Balance verlieren könnte, wenn einer der Zweige immer größeres Gewicht bekommt. Schon möglich, findet er. Schon geschehen, könnte die Leserin finden. Wir sprechen über Konzepte. Meine Analogie ist der Verkehr. Ein öffentlich-rechtliches Finanzwesen ist, wie wenn man eine Bahnlinie baut. Wie mit dem Lineal wird die Strecke geplant, der Zug kann nicht von den Schienen, jeder Einzelne muss sich an den Fahrplan halten. Dazu im Gegensatz der Individualverkehr, wo jeder unterwegs ist, wann und wo es ihm passt. Brauchen wir beides, zu welchen Bedingungen?
Take #7: Autobahnraststätte Börde Süd - Berlin, Brandenburger Tor (140 km)
Georg hat sich auch ein bißchen mit 9/11 beschäftigt, sagt aber, dass er nicht einschätzen kann, welche Version nun glaubwürdig ist. Der internationale Finanzterrorismus hat es schon fast geschafft, das Thema vom Radar zu fegen, so dass auch mir an dieser Stelle kaum Luft bleibt, den Kollaps der drei Turmbauten des Welthandelszentrums als eigenständiges Verbrechen im 9/11-Komplex zu erklären. Darüber wird noch zu reden sein. - Ich hätte eigentlich kein Problem damit, mich in eines der zahlreichen Autos mit polnischen Kennzeichen zu setzen, allein mein Gesprächsbedarf setzt dem eine Grenze. Keiner spricht ausreichend deutsch. Eine Frau nimmt aus Prinzip keine Anhalter mit, das ist auch ok. Ein junger Mann schließlich steckt selbst in Nöten, er sagt, er müsse in zweieinhalb Stunden an der polnischen Grenze sein und wenn es zu einem Unfall käme, wären wir beide Matsch. Zudem wolle er eigentlich nicht nochmal anhalten. Die einzige moralische Stütze, die ich hier bieten kann, ist, ihm einen guten Weg zu wünschen. - Max und Moritz fahren bis Berlin/Prenzlauer Berg und nehmen mich mit - vielleicht können wir einen Deal machen? Der Verstärker und die Gitarren müssen bis in den 5. Stock, und Max hat einen Hexenschuss. Zwar ist es schon drei Uhr, aber warum nicht. Nach einem kurzen Austausch wird klar, dass beide nichts vom Staatsterrorismus wissen und wohl auch lieber nichts wissen wollen, jedenfalls fahren wir den größten Teil der Strecke schweigend bei sechziger-Rock'n'Roll ab. Moritz liest die "Süddeutsche". Ich hole etwas Schlaf nach. Bei der Ankunft in Berlin will ich wissen, ob für sie das Internet eine Informationsquelle zu politischen Themen sei, was von beiden verneint wird. Ich gebe ein paar url's weiter. Nach dem Intermezzo "Prenzlauer Berg, 5. Stock" bringt Max mich zum Brandenburger Tor und vertritt den Standpunkt, dass sich letztlich jeder um seinen eigenen Kram kümmern sollte und sich im direkten Umfeld eh besser einbringen kann. Ich entgegne, dass damit letztlich jeder allein bleibt und kaum eine echte gesellschaftliche Änderung bewirkt würde. Zur Demo wollte keiner von beiden mitkommen. Klein-klein im Kunstbetrieb, die Ironie liegt im Schicksal.
Siebzehn Uhr. Nach diesem Dämpfer bin ich heilfroh, wenigstens die Abschlusskundgebung mitzuerleben. Dank FoeBuD e.V. ist die Rückfahrt gesichert.
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Namen geändert. Kilometerangaben ohne Gewähr.
Der Verfasser dieser Zeilen hat sich schon leidlich an den Selbsthass gewöhnt. Ihm will nämlich seit einem Jahr nichts mehr recht gelingen. Unter diesem Stern schien auch die geplante Reise zur Großdemonstration "Freiheit statt Angst" am 11.10.2008 zu stehen, die vom AK Vorratsdatenspeicherung in Berlin organisiert wurde. Die Veranstalter waren so umsichtig, über den Verein FoeBuD e.V. Bustouren zu organisieren, um reisewilligen Demonstranten aus dem Bundesgebiet eine Städteverbindung bieten zu können. Die Bustour ist nicht mein Thema: Zwar hatte ich gebucht, die Abfahrt um 7:15 ab Bielefeld allerdings verschlafen.
Dafür seit sehr langer Zeit mal wieder die Gelegenheit genutzt, um per Anhalter zu reisen. Hier mein Bericht.
Take #1: Lemgo - Hohenhausen (10 km)
Neun Uhr. Lemgo stadtauswärts steht man in aller Regel nicht lange, ich habe hier schon öfter Leute gesehen, die den Daumen raushalten. Nach kaum zehn Minuten sitze ich bei einem jungen Russlanddeutschen im Mittelklassewagen, der in Arbeitshose zur Verwandschaft unterwegs ist, um beim Hausbau zu helfen. Die Strecke ist in zehn Minuten abgefahren, und da er mir unbedingt noch ein Faltblatt andrehen möchte, schließt sich zwischen Tür und Angel noch eine Diskussion über Jesus und die Apokalypse an. Zu meinem eigenen Pech begreife ich die Bibel als Lehr- und Geschichtsbuch und nicht als Gottes letzte Botschaft an die Schöpfung. Jedenfalls kriege ich es von meinem Helfer verbrieft, dass ich mich eben nicht auf dem rechten Weg befinde. Huh, Terror?
Take #2: Hohenhausen - Hessendorf (10 km)
Das Leben in der Provinz, das ist von besonderer Art. Wie miesepetrig die Leute gucken können, wenn sie Samstag Vormittag bei schönstem Wetter sich eben mal schnell ins Auto setzen, um dies und das zu besorgen, das kriegt Michel erst mit, wenn er sich mitten im Ort an die Straße stellt und den Daumen hebt. Ich bin hier ein Fremdkörper, das kriege ich deutlich mitgeteilt. Hie und da ein freundlicher Wink und ein Zeichen, dass der Fahrer leider abbiegen müsse: Das sind die hellen Momente. Ca. 40 min muss ich hier warten, bis mir einer aushelfen kann. Ein Studierter, Innenarchitekt, und schon haben wir eine gemeinsame Basis. Im Ingenieurwesen sind Führungsfragen das A und O des beruflichen Alltags. Also reden wir über Angst als Führungsinstrument. Und kommen in der kurzen Zeit, die wir miteinander teilen, auf den Konsens, dass nur führen kann, wer seine ureigensten Ängste zu bewältigen weiß. Heilt Schäuble, irgendeiner muss sich doch mit sowas auskennen!
Take #3: Hessendorf - Autobahnauffahrt Rehren (10 km)
Anhalters Traum: Regel-, nicht übermäßig befahrene Bundesstraße, Haltebucht für Überlandbus, eindeutige Straßenführung und: schönstes Wetter. Die Apfelbäume auf der gegenüberliegenden Straßenseite tragen schwer an ihren roten Früchten - im Gegensatz zum vergangenen Jahr gibt's diesmal eine reiche Ernte. Da ich hier offensichtlich Michel im Glück bin, gucken die vorbeifahrenden Leute auch nicht mehr ganz so abweisend und schuldbewusst wie kurz zuvor im Ortskern Hohenhausen. Und viel mehr als eine Zigarettenlänge ist auch nicht nötig, bis sich die Provinz auch menschlich von ihrer gesündesten Seite zeigt. Mein Helfer mit Allradantrieb ist nämlich Landwirt, und auch wenn er es nicht sagt, habe ich keinen Zweifel daran, dass bei ihm alles "bio" ist. Sein Beruf sei auch sein Hobby, meint der kräftig gebaute Mann um die Fünfzig, und damit zählt er für mich zu den glücklichen Menschen, und das sage ich auch. Das Einzige, was ich über die Situation in der Landwirtschaft weiß, ist, dass viele in der Branche dazu gezwungen sind, Kapazitäten zu erweitern, um das Einkommen zu halten. Das ist ein bißchen dünne für ein weiterführendes Gespräch zu diesem Thema, und darum geht's ja auch gar nicht. Also reden wir über Menschliches, Allzumenschliches. Sein - bemerkenswertes - statement: Er arbeite nur noch mit Leuten zusammen, bei denen er sicher sei, dass eine gewisse gemeinsame Basis besteht. Oh, und ich kann nicht anders, als dazu mein Leid klagen. Was soll nur aus dir werden, Junge?
Take #4: Autobahnauffahrt Rehren - Rastplatz Varrelheide (50 km)
Ich trage keine Uhr, und auch wenn ich das Handy dabei und angeschaltet habe, möchte ich lieber nicht genau wissen, wie spät es mittlerweile ist. Dass ich es kaum mehr schaffen kann, bis 14:00 in Berlin zu sein, ist eh klar. Und diesmal ist es eine Härteprobe, direkt am Randstreifen, 10 m vor dem Autobahnschild, neben dem Graben. Da muss Anhalter schon sehr aufpassen, die Moral hoch zu halten. Wenigstens wird die Auffahrt überhaupt genutzt, so alle 10 Minuten mal. Bleibt Zeit für eine Kaffeepause, und ein bißchen, nur nicht zuviel, Sinnieren über dies verschissene Dasein. Nach jahrelangem unnützen Rumsitzen in dämlichen Vorlesungen und den letzten Monaten, die ich fast nur noch vor dem Rechner verbracht habe, fällt mir das lange Stillstehen ungewohnt schwer, und ich gehe oft hin und her, um mir die Beine zu vertreten. Drei, vier mal wirbelt mir ein LKW den Straßenstaub vor die Nase. Die meisten - und oft die jungen - Leute, die in ihren immer wieder großen Autos an mir vorbeifahren, gucken dämlich. Für zwei Manager in offensichtlicher Eile bin ich vielleicht noch sowas wie eine Mahnwache in der Wüste, für die vorbeifahrende Polizeistreife nicht mehr als einen kurzen Blick wert. So geht fast eine Stunde rum, nach meiner Schätzung.
Endlich wird das Warten belohnt. Ein kauziger Typ in ölverschmierter Latzhose und ziemlich neuem Mittelklassewagen, der sich sofort das Du ausbittet. Karl arbeitet im Straßenbau, und das seit '69. Ja, das macht er gerne. Er ist Baggerführer und hat einige Jahre in Australien gelebt. Seit der Scheidung ist das Haus weg, sagt er. Und er sei dreifach qualifiziert, im Straßenbau, als Elektriker und als Maschinist. Das Einzige, was ihm in seinem Beruf mehr und mehr auf die Nerven geht, ist die Fahrerei. Seit die Ausschreibungen im Straßenbau europaweit laufen, werden die Wege immer weiter. Jetzt ist er nach Hamburg und nach Hause unterwegs. Er fährt schnell, und auch wenn ich grundsätzlich kein Problem damit habe, dass er beim Fahren einen Anruf entgegennimmt und sein Netzwerk pflegt, muss ich doch unwillkürlich das eine oder andere Mal die Füße gegen das Bodenblech stemmen, wenn ein vorfahrendes Auto bedrohlich nahe kommt. Aber wir reden lieber über Deutschland im Jahr 2008. Warum ein junger Kerl wie ich - Karl darf das sagen, er ist bestimmt 20 Jahre älter als ich - nicht einfach auswandert? Oder sich selbständig macht? Ich verteidige mich: Für beides braucht man Geld. Und, egal wo ich bin: die Probleme nehme ich mit. Jedenfalls spürt er meine Konzeptlosigkeit, und am Ende bedauern wir es beide, dass wir nicht mehr Zeit miteinander verbringen konnten. Dank ihm bin ich aber über den toten Punkt hinaus und weiß nun mit Sicherheit, dass ich es bis Berlin schaffen werde. Lob der Solidarität!
Take #5: Rastplatz Varrelheide - Autobahnraststätte Zweidorfer Holz (40 km)
Das ist ein Rastplatz mit WC, und obwohl es ziemlich ruhig zugeht, wird er an diesem Samstagmittag doch hin und wieder angefahren. Hier wird mir nicht langweilig, allerdings kriege ich mehrfach Bescheid, dass an der nächsten Ausfahrt die Reise schon zu Ende geht. In einem Fall entwickelt sich ein Gespräch. Mein Gesprächspartner ist nur wenig älter als ich, verheiratet mit zwei Kindern. Ich teile ihm mit, warum ich unterwegs bin, und er lobt den Idealismus, den Leute haben, die zu einer Demonstration fahren. Aber mal ehrlich, was soll es denn bringen? Ändern wird sich nichts, der Kapitalismus hat immer gewonnen, und letztlich wird sich jeder nur um seinen eigenen Kram kümmern. Ich entgegne, dass er mit seinen Kindern schon seinen Teil zur Arterhaltung beigetragen hat und mir mangels eigener Familie eben dieser Weg offensteht. Mein Frust und sein Frust halten sich die Waage. Was uns eint, ist das Liberale, wenngleich uns beiden bewusst ist, dass wir uns bei einem gemeinsamen Kneipenabend schwer tun würden, außer Politik ein für beide befriedigendes Thema zu finden.
Umso besser, dass wir beide weiter wollen und nach diesem Intermezzo jeder wieder seiner Wege geht. Mein nächster Gastgeber ist ein älterer Herr, der zur Firmung seines Neffen von der holländischen Grenze bis Wolfenbüttel unterwegs ist. Er bittet sich sofort das Du aus, und da wird mir gleich das Herze leicht. Der gewonnene Raum wird ebenso schnell durch die harten Themen besetzt. Der Schily und die Stein-leute, die Brücks und Meyers, das sind gute Leute, findet Heinz. Die machen ihre Sache ordentlich. Und was der Schily getan hat, um der Bedrohung durch die Islamisten zu begegnen, sei doch auch rechtens gewesen. Ohje, schon ists wieder vorbei mit der Seligkeit. Und es bleibt kaum genug Zeit, meinen Fahrer schonend aufzuklären. Ich versuche es trotzdem: "Hast du schon mal drüber nachgedacht, dass das mit dem Terror ein Schwindel sein könnte? Dass das, was uns erzählt wird, eine Methode ist, um einfacher regieren zu können?" Mehr ist aber schon nicht mehr drin, für den Rest der Fahrt sparen wir uns die Politik und geben uns Mühe, unserer Seelenverwandtschaft die Würde einer echten Begegnung zu verleihen.
Take #6: Autobahnraststätte Zweidorfer Holz - Autobahnraststätte Börde Süd (80 km)
Da ich mittlerweile zügig vorankommen möchte, halte ich mich an die Tankstelle, um eine freundliche Seele zu finden. Hier ist nämlich eine Finanzkrise, und da ist Georg. Er kommt aus der Branche, hat nach seiner Banklehre für einen Versicherer "Beratung" gemacht. In Wahrheit sollte er die Versicherungsprodukte verkaufen, ein seriöses, aber würdeloses Geschäft, wie er sagt. Nach zwei Jahren hat er sich mit einem Partner selbständig gemacht und bietet heute nur noch Beratung und Coaching an. Seit bald zwanzig Jahren. Das läuft gut, wie es scheint, der große Volvo, in dem wir sitzen, spricht für sich selbst. Ich frage ihn, ob er glaubt, dass unser dreigliedriges Banksystem mit den Zweigen der Sparkassen, Genossenschafts- und Privatbanken die Balance verlieren könnte, wenn einer der Zweige immer größeres Gewicht bekommt. Schon möglich, findet er. Schon geschehen, könnte die Leserin finden. Wir sprechen über Konzepte. Meine Analogie ist der Verkehr. Ein öffentlich-rechtliches Finanzwesen ist, wie wenn man eine Bahnlinie baut. Wie mit dem Lineal wird die Strecke geplant, der Zug kann nicht von den Schienen, jeder Einzelne muss sich an den Fahrplan halten. Dazu im Gegensatz der Individualverkehr, wo jeder unterwegs ist, wann und wo es ihm passt. Brauchen wir beides, zu welchen Bedingungen?
Take #7: Autobahnraststätte Börde Süd - Berlin, Brandenburger Tor (140 km)
Georg hat sich auch ein bißchen mit 9/11 beschäftigt, sagt aber, dass er nicht einschätzen kann, welche Version nun glaubwürdig ist. Der internationale Finanzterrorismus hat es schon fast geschafft, das Thema vom Radar zu fegen, so dass auch mir an dieser Stelle kaum Luft bleibt, den Kollaps der drei Turmbauten des Welthandelszentrums als eigenständiges Verbrechen im 9/11-Komplex zu erklären. Darüber wird noch zu reden sein. - Ich hätte eigentlich kein Problem damit, mich in eines der zahlreichen Autos mit polnischen Kennzeichen zu setzen, allein mein Gesprächsbedarf setzt dem eine Grenze. Keiner spricht ausreichend deutsch. Eine Frau nimmt aus Prinzip keine Anhalter mit, das ist auch ok. Ein junger Mann schließlich steckt selbst in Nöten, er sagt, er müsse in zweieinhalb Stunden an der polnischen Grenze sein und wenn es zu einem Unfall käme, wären wir beide Matsch. Zudem wolle er eigentlich nicht nochmal anhalten. Die einzige moralische Stütze, die ich hier bieten kann, ist, ihm einen guten Weg zu wünschen. - Max und Moritz fahren bis Berlin/Prenzlauer Berg und nehmen mich mit - vielleicht können wir einen Deal machen? Der Verstärker und die Gitarren müssen bis in den 5. Stock, und Max hat einen Hexenschuss. Zwar ist es schon drei Uhr, aber warum nicht. Nach einem kurzen Austausch wird klar, dass beide nichts vom Staatsterrorismus wissen und wohl auch lieber nichts wissen wollen, jedenfalls fahren wir den größten Teil der Strecke schweigend bei sechziger-Rock'n'Roll ab. Moritz liest die "Süddeutsche". Ich hole etwas Schlaf nach. Bei der Ankunft in Berlin will ich wissen, ob für sie das Internet eine Informationsquelle zu politischen Themen sei, was von beiden verneint wird. Ich gebe ein paar url's weiter. Nach dem Intermezzo "Prenzlauer Berg, 5. Stock" bringt Max mich zum Brandenburger Tor und vertritt den Standpunkt, dass sich letztlich jeder um seinen eigenen Kram kümmern sollte und sich im direkten Umfeld eh besser einbringen kann. Ich entgegne, dass damit letztlich jeder allein bleibt und kaum eine echte gesellschaftliche Änderung bewirkt würde. Zur Demo wollte keiner von beiden mitkommen. Klein-klein im Kunstbetrieb, die Ironie liegt im Schicksal.
Siebzehn Uhr. Nach diesem Dämpfer bin ich heilfroh, wenigstens die Abschlusskundgebung mitzuerleben. Dank FoeBuD e.V. ist die Rückfahrt gesichert.
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Namen geändert. Kilometerangaben ohne Gewähr.
daniel_n - 10. Mär, 23:09